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„Die klimaneutrale Transformation ist alternativlos, aber sie ist möglich“

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Autor: Redaktion

Ulf Reichardt

9. März 2022 | Im Interview mit gwf Gas + Energie berichtet Ulf C. Reichardt, Vorsitzender der Geschäftsführung von NRW.Energy4Climate, von den Zielen und Herausforderungen sowie den Möglichkeiten und Vorteilen der neuen Landesgesellschaft für Energie und Klimaschutz des Landes Nordrhein-Westfalen.

Herr Reichardt, seit dem 1. April 2021 verantworten Sie den Aufbau der neuen Landesgesellschaft NRW.Energy4Climate, die nun Anfang Januar 2022 ihren Betrieb aufgenommen und die alte Energieagentur NRW abgelöst hat. Zuvor waren Sie Hauptgeschäftsführer der IHK Köln, die Sie maßgeblich umgestaltet und fit gemacht haben für das neue digitale Zeitalter. Was hat Sie persönlich gereizt, diese neue Aufgabe zu übernehmen?

Reichardt: Es ist für mich persönlich sehr sinnstiftend, für das vielleicht wichtigste Thema unserer Zeit mit Verantwortung zu tragen und aktiv daran mitzuwirken, die richtigen Weichen für eine erfolgreiche Klimawende zu stellen. Denn bis 2045 will und muss Deutschland klimaneutral sein. Das ist praktisch schon morgen. Da gilt es, ganz schnell effektive Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Daran mitzuarbeiten und einen praktischen Beitrag zu leisten ist eine sehr erfüllende Aufgabe.

Was sind die primären Ziele von NRW.Energy4Climate und worin unterscheidet sich die neue Landesgesellschaft von der alten Energieagentur?

Reichardt: NRW.Energy4Climate ist die neue Landesgesellschaft für Energie und Klimaschutz des Landes Nordrhein-Westfalen. Wir sind keine Fortführung der bis Ende 2021 tätigen EnergieAgentur.NRW. Wir sind im Januar an den Start gegangen, um als zentrale Treiberin die Umsetzung der Energiewende und die Erreichung der Klimaschutzziele in NRW voranzutreiben und gleichzeitig den Industriestandort Nordrhein-Westfalen zu erhalten. Unser großer Vorteil ist, dass wir als Landesgesellschaft nicht über komplizierte Ausschreibeverfahren beauftragt werden müssen und kein „Ablaufdatum“ haben. Vielmehr können wir flexibel und dauerhaft handeln. So werden wir ein starker und verlässlicher Partner für ein klimaneutrales Nordrhein-Westfalen sein.

Die Ziele der NRW-Landesregierung sind sehr ambitioniert: Bis 2045 vollständig klimaneutral, dabei Vorreiter der Energiewende sein und Industriestandort Nr. 1 in Deutschland bleiben. Wie priorisieren Sie Ihre Ziele, um diese ambitionierten Vorstellungen der Landesregierung bestmöglich zu unterstützen?

Reichardt: Wir legen unser Hauptaugenmerk auf die vier Sektoren, die allein für über 90 % der Treibhausgasemissionen in NRW verantwortlich sind. Das sind die Energiewirtschaft, die Industrie, Wärme und Gebäude sowie die Mobilität. Unser oberstes Ziel ist Effizienz und Schlagkraft: Damit wir uns nicht verzetteln, filtern wir ganz gezielt heraus, um welche Themen wir uns wann kümmern. Unser Anspruch dabei ist klar: Wir wollen den Ausstoß schädlicher Treibhausgase in allen Bereichen, in denen wir tätig sind, so schnell wie möglich und so weit wie möglich reduzieren und den klimaneutralen Umbau aktiv vorantreiben.

Welche Milestones wollen Sie bis 2030 umgesetzt haben?

Reichardt: Wenn wir schnell klimaneutral werden wollen, müssen wir zielgerichtet handeln. Die Zielvorgaben hat die Landesregierung mit der Energieversorgungsstrategie NRW festgelegt: Der Anteil Erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung soll bis 2030 auf mehr als 55 % gesteigert werden. Die Windkraft soll von 6 GW im Jahr 2020 auf 12 GW in 2030 verdoppelt, die Photovoltaik sogar auf 18 bis 24 GW verdrei- bzw. vervierfacht werden.
Diese überaus ambitionierten Ziele unterstützen und untermauern wir mit konkreten Projekten. So bündeln wir mit der PV-Offensive NRW die Aktivitäten der Landesregierung unter unserem Dach und treiben den Ausbau der Erneuerbaren voran.

NRW ist die Heimat der deutschen Stahlindustrie. Mit der Transformation der Stahlindustrie durch Umstellung auf die Direktreduktionsroute und den Einsatz von Wasserstoff bietet sich ein großes Dekarbonisierungspotenzial. Was ist aus Ihrer Landessicht regulativ und fördertechnisch zu tun und was muss jetzt sofort getan werden, um der Stahlindustrie in Sachen Direktreduktion in den Sattel zu helfen?

Reichardt: Der klimaneutrale Umbau der Stahlindustrie ist ein Mammutprojekt, das nur in enger Zusammenarbeit von Politik und Unternehmen gelingen kann. Wichtig ist, dass das Land geeignete Genehmigungsverfahren entwickelt, damit die Unternehmen die Direktreduktion im benötigten Maßstab möglichst schnell einführen können. Um das zu unterstützen, haben wir als Landesgesellschaft im Thinktank IN4climate.NRW eine eigene Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. Daneben braucht es natürlich auch Fördermittel und Regularien. Die Marschrichtung gibt das Land mit der Wasserstoff Roadmap, der Carbon Management Strategie und dem Handlungskonzept Synthetische Kraftstoffe vor. Aus unserer Sicht werden außerdem Klimaschutzverträge eine wichtige Rolle spielen, da sie es den Unternehmen ermöglichen, trotz starken internationalen Wettbewerbs in klimaneutrale Technologien zu investieren.

Wasserstoff ist der neue Hoffnungsträger der Energiewende und ein Schwerpunkt Ihrer Aktivitäten. Mit welchen unterstützenden und fördernden Maßnahmen wollen Sie beim Wasserstoff-Hochlauf die H2-Readyness der bestehenden Gas-Infrastruktur verbessern bzw. erhöhen?

Reichardt: Um den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft zu beschleunigen, hat die Landesregierung die Wasserstoff-Roadmap Nordrhein-Westfalen aufgelegt. Die Ziele sind klar: Bis 2025 sollen erste Großanlagen in Betrieb gehen, die ersten 120 km eines Pipelinenetzes sollen installiert und 400 Brennstoffzellen-Lkw auf den Straßen unterwegs sein. Die zentrale Herausforderung ist, grünen Wasserstoff in ausreichenden Mengen wirtschaftlich zu produzieren. Hierfür müssen wir unbedingt den Ausbau der Erneuerbaren Energien in NRW voranbringen und die Netze sowohl für Strom als auch für Wasserstoff ausbauen. NRW.Energy4Climate wird hier einen wichtigen Beitrag leisten.

Sollte Ihrer Meinung nach im Verkehr das Motto „all electric“ heißen oder propagieren Sie eher einen Energieträgermix mit starkem Fokus der batteriebetriebenen Elektromobilität in den Städten und einem ebensolchen Schwerpunkt der Wasserstoff- oder mit grünen Gasen betriebenen Mobilität auf dem Lande. Wie sehen Sie hierbei insbesondere die Entwicklung beim ÖPNV in den nächsten Jahren?

Reichardt: Mobilität ist ein unverzichtbarer Bestandteil des täglichen Lebens. Während sich bei PKW batterieelektrische Antriebe durchzusetzen scheinen, sind bei Nutzfahrzeugen, Bussen, Zügen und Schiffen verschiedene Technologien denkbar. Vermutlich werden hier je nach Anwendungsfall batterieelektrische Antriebe oder die Brennstoffzellen-Technologie zum Einsatz kommen. Synthetische und biogene Kraftstoffe sollten aufgrund der geringen Mengenverfügbarkeit zunächst vor allem dort eingesetzt werden, wo es keine anderen klimaschonenden Alternativen gibt. Klar ist: Nur mit einer entsprechenden Lade- beziehungsweise Tankinfrastruktur können diese Technologien Erfolg haben. Daher unterstützt NRW.Energy4Climate insbesondere Unternehmen und Kommunen auch in diesem Bereich.

Wird Ihrer Meinung nach die NRW-Landesregierung die Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte, wie Stromtrassen, Windkraftanlagen, Gasleitungen und Gaskraftwerke in NRW mit Nachdruck in naher Zukunft beschleunigen und welche Rolle spielt dabei Ihre Landesgesellschaft?

Reichardt: Es hat sich in den vergangenen Jahren bereits viel getan: Die Landesregierung hat bürokratische Hürden abgebaut, Verfahren digitalisiert und Prozesse auch auf Bundesebene angestoßen. Gleichzeitig hat sich die Industrie selbst auf den Weg gemacht und wichtige Investitionen getätigt. Das ist erstmal eine positive Entwicklung, aber es steht auch fest: Es muss hier noch viel passieren, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen. Wir als Landesgesellschaft sehen unsere Rolle als Bindeglied zwischen Unternehmen und Politik. Durch unsere Nähe zur Landesregierung können wir das, was getan werden muss, an genau den richtigen Stellen platzieren.

Kommunen sind der Kern unserer Zivilgesellschaft. Auch sie stehen vor einer umfassenden und durchgreifenden Transformation und enormen Herausforderungen. Wie wollen Sie diese bestmöglich mit NRW.Energy4Climate beraten und unterstützen?

Reichardt: Die Zusammenarbeit mit den Kommunen ist ein wichtiger Schwerpunkt in unserer Arbeit. Denn Klimaschutz wird in den Kommunen umgesetzt. Um die Kommunen bestmöglich zu unterstützen, verankern und vernetzen wir uns mit unserem Regionalkonzept in den Regionen Nordrhein-Westfalens. In insgesamt neun Regionalbüros ist die Landesgesellschaft mit NRW.Klimanetzwerkerinnen und -netzwerkern vor Ort vertreten. Diese bauen in der jeweiligen Region lokale Netzwerke auf, informieren zu Förderprogrammen, vermitteln Know-how und helfen dabei, lokale Klimaschutzprojekte auf den Weg zu bringen. Das Team Kommunaler Klimaschutz unterstützt die NRW.Klimanetzwerkerinnen und -netzwerker aus der Düsseldorfer Zentrale heraus.

Der Wärmemarkt ist einer der vier Sektoren. In NRW ist die Wärmeversorgung über Fernwärmenetze, die in der Regel an Kohlekraftwerke angeschlossen sind, sehr ausgeprägt. Welche Veränderungen kommen mit dem Abschalten der „Kohlemeiler“ auf NRW zu und wie kann die energetisch sinnvolle Nutzung von Abwärme in Zukunft aufrechterhalten werden?

Reichardt: Fernwärme wird in der zukünftigen Wärmeversorgung Nordrhein-Westfalens eine deutlich größere Rolle spielen als bisher. Im Energiesystem der Zukunft müssen wir, neben der Abwärme aus Gas- beziehungsweise wasserstoffbasierten KWK-Anlagen, weitere Quellen klimafreundlicher Wärme erschließen. Dazu zählt vor allem unvermeidbare Abwärme aus industriellen Hochtemperaturprozessen und die Geothermie, aber auch Abwärme aus beispielsweise Groß-Elektrolyseuren. NRW.Energy4Climate arbeitet daran, Projekte voranzutreiben, die die großen Potenziale dieser Wärmequellen für NRW nutzbar machen.

Herr Reichardt, eine letzte Frage: Wir springen einfach mal gemeinsam zehn Jahre in die Zukunft. Wie wird sich das Industrie-Bundesland NRW verändert haben? Wie sieht unsere Energieversorgung aus, wie bewegen wir uns fort und wie heizen wir unsere Häuser? Es sind nur zehn Jahre und dennoch muss die Transformation mit unfassbarer Geschwindigkeit vorangetrieben werden, um die großen Ziele zu erreichen. Machen wir uns etwas vor?

Reichardt: Der Schutz des Klimas ist die drängendste Aufgabe unserer Zeit. In zehn Jahren müssen wir den Großteil unseres Energiebedarfs mit erneuerbaren Energien decken, unsere Gebäude müssen mit innovativen, klimaschonenden und effizienten Technologien ausgestattet sein und die Frage, wie wir uns fortbewegen, müssen wir grundlegend neu denken. Die Emissionen müssen drastisch sinken, Innovationen in der Breite verankert und Investitionen massiv gestiegen sein. Das alles ist für ein bevölkerungsreiches Industrieland wie Nordrhein-Westfalen eine gewaltige Kraftanstrengung. Die klimaneutrale Transformation ist alternativlos, aber sie ist möglich. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir das gemeinsam schaffen werden.

Herr Reichardt, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview ist erschienen in gwf Gas + Energie 3/2022.

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